Erika Eifler
„Unsere kulturelle Umwelt ist so lebenswichtig wie die ökologische: sie gibt uns Boden und Luft, sie eröffnet uns Wege zur Identität und Heimat, sie gibt uns Orientierung in Kontinuität und Wandel.“
„Wir dürfen keine Analphabeten der Erinnerung werden. Darum müssen wir unseren Kindern helfen, einen Blick für Denkmäler zu entwickeln, also müssen wir ihnen zeigen, daß man und wie man in ein spannendes Gespräch mit dem kulturellen Erbe kommen kann. Denkmalpflege ist lebendig, wenn sie uns immer wieder in ein solches Gespräch zieht...."
Grußwort von Bundespräsídent Johannes Rau zur Eröffnung der European Heritage Days am 3. Aug. 2002 auf der Zeche Zollverein. DSI 03/2002 s. 7
Utlandfriesisches Haus in Hattstedt
Auf den ersten Blick unscheinbar, durch seinen erneuerten, nichtssagenden Westgiebel zur Bundesstraße 5 kaum fähig, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, steht das Reetdachhaus Nr. 40 etwas zurückgesetzt an der B 5, ca. 1 1/2 m tiefer als die heutige Trasse. Aber wenn man genauer hinschaut, so zieht uns dieses Gebäude rasch ins Gespräch: der Zuschnitt des Grundstücks, seine Bepflanzung mit alten Obstbäumen: Quitte, 2 Apfelbäume, Holunder, große alte Buchsbaumpflanzungen, ein Brunnenschacht, die Spuren der zahlreichen Veränderungen der Nord Eingangsfassade, die Steine im Klosterformat neben dem Eingang, die Feldsteinfundamente. Das Haus führt uns selbst weiter zum Ostgiebel und gibt sein erstes Geheimnis preis: die Jahreszahl 1768, eingelegt mit gelben Ziegeln in die obere Zone des mit Deutschem Band unterteilten, liebevoll gestalteten Rotsteingiebels mit einer Ortganggestaltung durch Dreiecke aus gelben Ziegeln, typisch für die Zeit.
Auch hier erzählen die Klostersteine und die roten und gelben Backsteine aus der Erbauungszeit von der Geschichte des Hauses. Die schräg gestellte Rollschicht eines Sturzes aus gelben Ziegeln zeugt von Lage und Breite eines ehemaligen Fensters. Das Gebäude soll in Kürze einem Neubau weichen. Die Nutzung als Wohnhaus an der heute stark befahrenen B 5 weicht einer Nutzung als Geschäftshaus. Der Ortschronist von Hattstedt, Johann Carstensen, informierte irn Juli Gerd Kühnast von dem bevorstehenden Abbruch und wies auf ein vorhandenes Ständergerüst hin, von dem er wusste, das er aber noch nicht gesehen hatte. Und als beide noch am gleichen Tag das Gebäude auch von innen besichtigten, erkannten sie, dass es sich um die Konstruktion eines utlandfriesischen Hauses handelte. Ein Kehlbalkendach mit Gebinden aus Eiche. Die Dachbalken mit ungewöhnlich großen Querschnitten ruhten auf ähnlich dimensionierten Rähmen.
Aber von den tragenden Ständern waren nur noch 2 Eichenständer vorhanden, einer – ein zweitverwendeter Sparren mit Löchern, die auf das Andübeln von Dachlatten hindeuten – auf der Südseite nahe des Westgiebels (14 x 19 cm) unter dem 1. Gebinde im Abstand von 1,52 m zur Außenwand, ein zweiter unter dem 5. Gebinde auf der Nordseite 32 x 22 cm im Abstand von 1,48 m zur Außenwand mit Kopfbändem in Süd- und Westrichtung. Der größte Teil der Dachlast ruhte provisorisch auf Innenwänden des Hauses. 1984 war das Haus Nr. 40 an der B 5 schon von der Arbeitsgruppe der lG-Baupflege in die Kartei der geschichtsträchtigen Gebäude Nordfrieslands aufgenommen worden. Es war aber nicht unter Denkmalschutz gestellt worden, vermutlich wegen der starken Veränderungen der Fassaden und des ursprünglichen Grundrisses, und weil man wohl nichts von dem Hausgerüst wusste. lm Sommer des vorigen Jahres war der Abbruch schon ins Auge gefasst. Das über 200 Jahre alte Haus drohte unbemerkt zu verschwinden. Wenigstens eine Dokumentation sollte doch später von seiner Existenz zeugen. Gerd Kühnasts Bemühungen bei dem Landesamt für Denkmalpflege hatten Erfolg: Das Landesamt übernahm den größten Teil der Kosten für eine Bestandsaufnahme mit verformungsgerechtem Aufmaß und die dendrochronologische Untersuchung der Hölzer. Die Gemeinde Hattstedt gab 500,– EUR dazu und den Rest von knapp 500,– EUR über nahm die lG Baupflege selbst. So konnte die IGB mich im August mit der Bestandsaufnahme beauftragen.
In der Folge gab es mehrere Menschen, die in das Gespräch mit dem alten Haus hineingezogen wurden. Da waren die Nachbarn, das Ehepaar Görisch, die uns für die Messarbeiten einen Stromanschluss in ihrer Gartenlaube zur Verfügung stellten, quer durch ihren Gemüse- und Blumengarten, den ich jederzeit benutzen konnte, auch wenn sie nicht da waren. Das Ehepaar Nissen, das das Haus erworben hatte, stellte uns den Schlüssel zur Verfügung und wartete mit dem Abbruch, bis ich alles aufgenommen und fotografiert hatte . Sie warteten auch einen Besuch der Technikerschule Husum mit Architektin Brigitte Wolff ab, die sich gerne über das Haus und die Methoden der Bestandsaufnahme informieren wollten (Abb. 16). So wurde es darüber Winter und schließlich in der ersten Februarwoche wurde das Haus Stück für Stück abgetragen. Jens Kiesby, Bürgermeister von Hattstedt, besuchte uns während der Arbeiten. Er war sehr interessiert, und als ich ihm berichtete, dass alle Eichenprofile Spuren der Wiederverwendung zeigen, gab er den Tipp, dass es vielleicht Hölzer vom Gut Arlewatt sein könnten, denn auch früher war Eiche in den hier verwendeten großen Querschnitten teuer; nicht jeder konnte sich das leisten! Schon kurze Zeit nach Beginn der Messarbeiten stand fest, dass man alle Bekleidungen der Balken und Wände entfernen müsse, um Spuren der ursprünglichen Wandstellungen des utlandfriesischen Hauses zu finden. Zu viel war verändert worden.
Die ersten Freilegungsarbeiten führte Gerd Kühnast selbst durch, später beauftragte er zwei junge Männer damit, die das sehr liebevoll und aufmerksam durchführten. Trotz der freigelegten Spuren gibt das Gebäude sein Geheimnis noch nicht preis. Im Gegenteil! Es stellt neue Fragen. Wir werden ihnen weiter nachgehen, indem wir aufmerksam den Abbruch begleiten werden auch über die Suche nach Berichten, Unterlagen zu früheren Umbaumaßnahmen, alten Flurkarten und Berichten über die Auflösung des Gutes Arlewatt im Kreis- und Landesarchiv. Die dendrochronologische Untersuchung der Hölzer durch das Holzbiologische Institut der Universität Hamburg bestätigten die Wiederverwendung der Eichenhölzer sowohl im Erdgeschoss (Wandpfetten – landläufig Muurplaat genannt – und Deckenbalken) als auch des Dachstuhls. Alle Hölzer sind,als zeitlich homogenes Kollektiv zu betrachten". Sie wurden in den Wintern 1495/96 und 1496/97 gefällt und stammen demnach vermutlich alle aus ein- und demselben Haus des ausgehenden 15. Jh. Damit gehören sie zu den ältesten Hölzern, die in schleswig-holsteinischen Bauernhäusern gefunden wurden: In Seeth/Stapelholm wurden einzelne Gerüste auf die Zeit 1480 und 1490 datiert.
Beschreibung des Gebäudes
Eingeschossiges Langhaus mit reetgedecktem Dach, nach Westen: Vollwalm, nach Osten: Krüppelwalm mit einem Mauerwerksgiebel aus Rotstein verziert mit Deutschem Band, ins Mauerwerk eingelegter Jahreszahl 1768 und 2 runden Lüftungsöffnungen aus roten und gelben Steinen. Den Ortgang begleiten gemauerte Dreiecke aus gelben Ziegeln. Spuren eines geraden Sturzes aus schräg gestellten gelben Schmucksteinen deuten auf ein ehemaliges Fenster. Das Mauerwerk besteht in den unteren Schichten aus Klostersteinen, wahrscheinlich ebenso wiederverwendet wie die Eichenstämme des Daches, und in den oberen Schichten aus weich gebrannten Rotsteinen, vermutlich aus der Erbauungszeit. Die Nordfassade ist mit einer Verblendung von Klinkern erneuert, die Bereiche um die völlig veränderten Fenster sind mit Mauerziegeln der Neuzeit geflickt. Es gibt zwei Eingänge: einen in der Nord-Längswand, in einen quer liegenden Flur führend, und einen in der Westfassade zur Straße. Der Westeingang befindet sich in der Giebelwand an der Stelle des früheren Einganges in den längs aufgeschlossenen Stall, ein Merkmal des utlandfriesischen Grundrisses. Zum Grundstück gehört ein Brunnenschacht vor der Nordseite des Gebäudes. Gerd Kühnast schlägt vor, diesen Brunnen als Zeugnis zu erhalten, wenn es die Planung zulässt.
Der ursprüngliche Grundriss ist bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht zu erkennen. Bekannt ist aber, dass Raum R V ursprünglich zum Stall gehörte. Man erkennt dies an dem Wechsel des Wandputzes von Kalkputz im Bereich der Stuben zu Lehmputz im ehemaligen Stall. Das Haus hat einen Keller (R XIII), der vom Flur (R1)aus begangen wird. An ihn angrenzend sind nach Westen hin die früheren Stallzonen noch zu erkennen. Bei den Freilegungsarbeiten entdeckte ich, dass die wiederverwendeten Balken als Wandpfetten der Süd-Außenwand nicht in ihrer ursprünglichen Stellung liegen. Sie wurden verdreht eingebaut eventuell im Laufe von späteren Baumaßnahmen, wie an den Anstrichflächen zu erkennen ist. Erstaunlich sind ihre großen Querschnitte, die den sonst üblichen Mauerlatten (ca. 8 x 12 cm) nicht entsprechen. Auch die beiden Deckerıbalken aus Eiche, ebenso 15. Jh., wurden neu verlegt, vielleicht, weil sie durchgebogen waren, Ihr jetziges Auflager ohne Fixierung. nur auf dünnen Ausgleichsbrettchen, ist provisorisch.
In den Wandpfetten wurden eine Reihe von Zapfenlöchern sichtbar mit einer Breite von 22 cm und einem lichten Abstand von ca. 80 cm, was auf eine Ständerstellung in einem ursprünglichen Fachwerk hinweisen könnte. Außerdem sind Spuren zweier Original-Wandstellungen im freigelegten Putz abzulesen. Der Raum III zeigt in der Süd-Außenwand 2 hintereinander liegende Wandpfetten; die Räume III A / IV haben nur eine sehr mächtige Wandpfette mit einem Querschnitt von BxH 36 x 22,5 - 25cm. Sie reicht noch ca. 50 cm in den Raum R V. Alle beschriebenen Wandpfetten sind aus Eiche. Die weiterführende in R V besteht aus neuem Nadelholz. Der ursprüngliche Wechsel der Räume ist an den Farbschichten der Wände abzulesen. Es gibt zwei Kamine, einen älteren, in Lehm aufgesetzt, und einen aus den 1950er oder 1960er Jahren. Der neuere steht im ehemaligen Stall, der ältere kann auch nicht in der ursprünglichen Lage stehen, da er für einen traditionellen Grundriss dieser Gegend viel zu nah an der Giebelwand steht. Die innere Längswand, die diesen Kamin streift, zeigt Spuren eines durchlaufenden Rähms aus Eiche in Türhöhe.
Während der Messarbeiten am Dachstuhl stellte ich an den zahlreichen Spuren im Eichenholz fest, dass das Holz des gesamten Dachstuhls wiederverwendet wurde, denn die Spuren ergeben kein zusammenhängendes Bild. Der Dachstuhl des Kehlbalkendaches besteht aus insgesamt 8 Gebinden. Davon sind 7 Gebinde aus Eiche. 5 Gebinde bestehen aus je einem Dachbalken mit einem Querschnitt von BxH ca. 30 x 36cm und 2 Sparren mit Querschnitten von BxH ca. 16 x 18cm, die an den Dachbalken seitlich angeblattet und mit ungewöhnlich starken Holznägeln (50 mm ) fixiert sind. Diese Verbindung ist Hinweis auf die Zeit etwa Mitte des 16. Jahrhunderts. Aufschieblinge überbrücken der Abstand von der Außenmauer zu den Sparren.
Die 5 Dachbalken der 5 Gebinde liegen auf 2 Rähmen aus Eiche unterschiedlicher Länge mit Querschnitten von BxH ca. 22 x 25cm. 2 Gebinde enden auf den Mauerpfetten der Außenwände und werden durch Maueranker mit den Balken der Zimmerdecken konstruktiv verbunden. Die Deckenbalken der Zimmerdecken liegen ca. 70 cm unter den Dachbalken. Das letzte Gebinde stellen die Walmsparren des Krüppelwalms im Osten. Die mächtigen Rähme werden zum Teil provisorisch durch kurze Holzprofile auf die darunter liegenden Wände abgestützt. Das nördliche Rähm wird bei Gebinde V von einem Eichenständer 22 x 32 cm mit Kopfbändern nach Süden und Westen getragen. Die Balken I / II / III zeigen an ihrem südlichen Ende Spuren von ehemaligen Ständern oder Streben/Kopfbändern. Die Zapfenlöcher der Ständer haben eine Größe von ca. 8x25 cm, die der Streben oder Kopfbänder 8x40cm. (s. Abb. 4). Die Verformung der Hölzer machte eine aufwendige kleinteilige Höheneinmessung notwendig und die Erfassung jedes einzelnen Baugliedes.
Baugeschichte
Über die ursprüngliche Aufteilung des Grundrisses, den Haustyp und die Bauweise des Erdgeschosses kann zum jetzigen Zeitpunkt noch keine genaue Aussage gemacht werden. Ich erhoffe, bei der Begleitung des bevorstehenden Abbruchs des Gebäudes weitere Spuren dazu zu finden. Zu der Herkunft der wiederverwendeten Eichenhölzer können nur Vermutungen ausgesprochen werden. Auffallend ist, dass die Erbauungszeit des Hauses in Hattstedt (Giebelintarsien) 1768 mit dem Datum übereinstimmt, an dem die vorzeitige Niederlegung des Gutes Arlewatt beschlossen wurde. Die Quelle, die ich im Kreisarchiv in Husum einsehen konnte, berichtet auch von Versteigerungen, jedoch nicht im Jahr 1768, sondern erst ab 1772: Skizzen aus der Geschichte des Gutes Arlewatt, 200 Jahre nach der Aufteilung, von Gerhard Bannick. Mit der Geschichtsnachforschung stehe ich noch am Anfang.
Der nächste Schritt war der Gang zum Grundbuchamt in Husum zur Feststellung der Eigentümer chronologisch rückwärts, damit ich die Bauscheine im Kreisarchiv überprüfen kann. Die Unterlagen im Grundbuchamt führten mich zurück bis ins Jahr 1880, zu ca. 130 Jahren fehlen noch die Eigentümer. Aufschluss über eine eventuelle Verbindung mit dem Gut Arlewatt kann jedoch nur das Landesarchiv geben.
Aus dem IGB-Archiv, Der Maueranker 04/2002